// Mein Brief an das heutige Europa //
Liebe Blogleser, es wird mal wieder etwas politisch, Zeit für meine Meinung, für etwas „Gehirnfasching“. Meine Meinung zu den „besorgten Bürgern“ alias Arschlöchern in diesem Land habe ich ja schon einmal hier klar und deutlich geäußert. Aber nicht nur an diese Mitmenschen möchte ich mein Wort richten. Gestern sind mitten in Österreich, mitten in „unserem“ Europa 71 (!) Menschen im LKW eines Schleppers gestorben. Wahrscheinlich qualvoll erstickt. Schon lange frage ich mich, warum Europa keine legale Einreise ermöglicht, keine Korridore für Heimatvertriebene organisiert und stattdessen Menschen in die Hände von Schleppern treibt. Jetzt fegen mir die Gedanken nur so durch den Kopf und ich musste sie ordnen, aufschreiben und hinausschreien. Denn eigentlich war ich bisher gerne EU-Bürgerin, habe mich lieber als „Europäerin“ gesehen als „Deutsche“. Doch jetzt bin ich da am zweifeln. Viele schreiben und kommentieren gerade wertvolle Beiträge zu dem, was gerade in unserem Land abgeht. Ich möchte mein Wort heute aber nicht nur an die deutschen Mitbürger richten es geht an unseren Kontinent, die EU, an uns und unsere Nachbarn. Mein Brief an Europa:
Liebes Europa,
früher war alles besser…nein nicht alles, aber das zwischen dir und mir, ja das war einmal viel besser. Mit Anfang zwanzig, vor mittlerweile elf Jahren hast du mir ein Erasmus Stipendium gegeben, und damit hast du alles richtig gemacht. Denn deine Ziele fielen auf fruchtbaren Boden…ein halbes Jahr in Spanien, ich war Erasmus-Studentin in Salamanca und dein Fan.
Schon vorher stand ich dir offen gegenüber. Die Kriegstraumata und Ängste meine Großeltern-Generation waren noch in meiner Kindheit präsent, und haben mir oft Angst eingejagt. Deine Idee von befreundeten Nachbarländern, die gemeinsam Probleme anpacken und lösen können, anstatt sich alle Jahrzehnte gegenseitig zu bekriegen und nichts zu gönnen, gab mir eine große Hoffnung. Die Hoffnung, dass wir nie mehr im Krieg leben müssen, dass wir die Menschen in unseren Nachbarländern kennen und verstehen lernen.
Und dann in Spanien: Dein voller Erfolg. Eigentlich kein Studium – vielmehr ein halbes Jahr Party – und doch so sinnvoll und viel mehr. Fünf monatelang in einem Freundeskreis mit Menschen aus so vielen Nationen. Portugiesen, Italiener, Deutsche, Belgier, Franzosen, Holländer – wir waren alle in der gleichen Situation, wir waren alle unbeschwert, wir waren alle in Spanien, diesem schönen Land. Ich mag diese Menschen noch immer, verfolge auf Facebook ihre Hochzeiten, freue mich über ihren Nachwuchs. Und so hat dein Stipendium sein Ziel erfüllt, dein Geld war bei mir gut investiert. Im Gegensatz zu meiner Großeltern-Generation kann mir keiner was über „Den Spanier“, „Den Franzosen“ oder „ Den Italiener“ erzählen und Hass streuen – denn ich habe dort Freunde und würde keine Feindschaft mit ihnen oder diesen Ländern billigen.
Liebes Europa, damit hast du es geschafft, dass ich auch bei Eurokrise, Greichenlandpleite und Co, die später auf dich herein brachen, viel weniger kritisch zu dir war, als viele in meinem Umfeld. Habe ich bei meinen Fernreisen den Kontinent gewechselt, habe ich mich schnell zu anderen Europäern gesetzt und mich bei Gesprächen ein bisschen heimisch gefühlt. All die Jahre war ich von dir überzeugt. Aber jetzt bröckelt sie doch, die Überzeugung.
Denn dieser europäische Traum er kommt ins straucheln und immer wieder erwische ich mich dabei, wie in meinem Kopf „Europa“ gleichgesetzt wird mit „EU“ mit „Politikern“. Die „EU“ das sind „die“. Die von uns gewählten Politiker, die scheinbar endlos diskutieren und versuchen Lösungen zu schaffen und es irgendwie nicht gebacken kriegen.
Bin ich eigentlich Europa? Früher hätte ich sofort geschrien ja! Aber gefühlt bin ich da nicht mehr ganz aufrichtig, liebes Europa. Europa ist für mich oft ein Bürokratiemonster. Europa sind Politiker, die taktieren wegen möglichen Stimmenverlusten im nationalen Gebiet. Und das schlimmste: Diesen Sommer wurde mir klar, dass Europa auch unmenschlich ist. Eine Möglichkeit legal in Europa Asyl zu beantragen gibt es nicht. Warum in aller Herrgottsnamen? Menschen, die alles verloren haben, lasst ihr lieber vor den Küsten zerschellen, als legal zu uns zu kommen. Ihr gebt die Verfolgten in Hände, die ihr kriminelle Schlepper nennt, die aber ihr einziger Weg in die Sicherheit sind. Nicht selten aber auch der Weg in den Tod! Ihr lasst Ungarn einen Zaun aus Stacheldraht bauen und sagt dann scheinheilig: Jeder hat das Recht, hier einen Asylantrag zu stellen. Ihr? Eigentlich müsste ich ja schreiben „Wir“. Aber Nein, das bin nicht ich und das ist nicht „mein“ Europa. „Mein“ Europa hat mich da sehr enttäuscht.
Mein europäischer Traum ist ein anderer: Lernen aus den schlimmen Fehlern unserer Vorfahren. Humanität statt Hass. Freundschaft statt Feindschaft. Zusammenhalt statt Schuld in die Schuhe schieben. Das „alte“ Europa hat schon so viele Krisen hinter sich gebracht – pack ma‘s an – alle Zusammen! Schiebt euch nicht gegenseitig Asylquoten und Grenzschutz-Vereinbarungen zu. Steht zusammen. Europa hat so viele helle Köpfe! Anstatt sich engstirnig gegenseitig im Weg zu stehen und nationaler zu denken, löst die Barrieren im Kopf. Helft in den Regionen außerhalb Europas sinnvoll, löscht wo es brennt. Überlasst die Menschen nicht ihrem Elend. Und vergesst vor lauter Diskussionen nicht den europäischen Gedanken. Wir sind Europa. Und ja, das (Zusammen-)Leben ist halt manchmal schwerer als ein lustiges Erasmus-Semester. Aber trotzdem dürfen wir den europäischen Gedanken nicht so verkommen lassen. Denn Europa doch immer noch etwas tolles, oder?
Liebe Menschen in Europa,
wir können auch ein bisschen stolz sein, auf das was wir seit dem zweiten Weltkrieg geschafft haben. Die meisten von uns haben noch nie einen Krieg miterleben müssen. Wer hätte vor hundert Jahren einmal gedacht, dass Deutsche, Franzosen, Spanier, Italiener und so viele mehr sich einfach einen Job in einem anderen europäischen Land suchen können? Hätte sich damals jemand vorstellen können, dass wir nicht einmal mehr Passkontrollen an unseren Grenzen haben werden? Das war überhaupt erst möglich, weil wir gelernt haben, uns zu vertrauen und uns zu schätzen! Trotz Eurokrise, die uns so viel Kraft und Jobs (ja, am wenigsten in Deutschland) gekostet hat, muss keiner verhungern oder fliehen. Spanien, Portugal, Italien – die Volkswirtschaften erholen sich wieder. Ich glaube, da haben wir zusammen doch schon einiges erreicht, oder?
Liebe Menschen in Europa, macht das nicht kaputt. Verstärkt es! Blickt nicht missgünstig auf Italien, Frankreich oder Österreich und rechnet unseren Nachbarn vor, wer denn jetzt mehr Flüchtlinge aufnimmt – sondern überlegt, wie wir das Problem zusammen lösen können. Und die Welt hört nicht vor Europa auf. Wir haben es geschafft, innerhalb Europas viele Barrieren zu druchbrechen – aber das nützt uns nichts, wenn die Welt an den Grenzen zur Eu aus den Fugen gerät. Die Menschen, die zu uns kommen, können uns bereichern – genauso wie das Zusammenrücken der Europäer uns bereichert hat. Wir müssen eine gemeinsame, klare Linie verfolgen. Aber bitte doch eine, bei der Menschenwürde an oberster Stelle steht! Liebes Europa, ich wäre so gerne auch weiterhin dein Fan und wünsche mir, dass irgendwann einmal deine einzige sinnfreie Veranstaltung der Eurovision Song Contest ist und die EU ein Gebiet der Freiheit, Demokratie, Wohlstand – und Menschlichkeit verschiedenster Nationen sein und bleiben wird.
Das hast du sehr sehr schön gesagt. Komisch, dass wir in heiklen Situationen plötzlich nicht mehr Europa sind sondern Deutsche, Italiener, Briten etc.
Ich habe mich auch immer voll und ganz mit dem europäischen Gedenken identifizieren können, hätte es sogar gerne noch weiter getrieben, bis wir nicht mehr einzelne Länder sind, sondern ein schöner großer Kontinent, mit Herz und Platz für Menschen, die zuhause nicht mehr sicher sind. Jetzt scheint es momentan genau anders herum zu laufen. Schade und sehr traurig.
Danke für deinen Kommentar, ja mit den heiklen Situationen hast du absolut recht – und doch ist es irgendwie menschlich. Merkt man ja auch schon in Deutschland gerade mit Ossi und Wessis wieder in der aktuellen Lage. So ein abgrenzen gehört warschl zum Menschein dazu – wichtig ist nur, dass man reflektiert, merkt wohin so etwas führt und dann wieder aufeinander zugeht.
Amen! Du hast meine Gedanken perfekt in Worte gefasst! Ich war auch immer stolz auf „mein“ Europa und ich möchte das nicht zerstört sehen. Und ich denke auch: So wichtig es auch ist, gegen Schlepper vorzugehen, genauso falsch finde ich es, sich darauf zu fokussieren. Schlepper sind nur ein Symptom der kranken Situation. Man muss den Menschen richtig helfen und ihnen nicht noch den letzten armseligen Rettungsring nehmen und denken, man rettet sie damit.
ich finde du hast den Nagel auf den Kopf getroffen!
ich fühle mich wohl hier in Europa, auch wenn ich gerne in die Welt hinaus gehe um sie mir anzusehen und daraus zu lernen … aber genau das ist, was dem europäischen Gedanken doch fehlt: über den Tellerrand hinauszugucken, nicht so engstirnig zu sein!
<3 Tina
https://liebewasist.wordpress.com/